Wenn ich mit einer Pipette die herausragendsten Ereignisse aus dem vergangenen Lebensjahrzehnt herausauslöse und den Inhalt in Wasser träufle, ergibt das ein explosives Gemisch.
Drei Geburten und zu viele Sterbefälle, die an meiner Existenz gerüttelt haben. Eine Zeit durchwachsen von Reisen, Abenteuern & gleichförmiger, familiär-geprägter Sesshaftigkeit mit vielen Umzügen..
Meine Identität in einer rollenden Achterbahn zwischen freiheitsliebender und neugieriger Bummlerin und fundament- und geborgenheitgebender Mutter. Zwischen heimatsuchend, heimatgebend und heimatlos. Zwischen Aufbruch und Rückzug. Ein Tauziehen um Wollen oder Können.
Fasertiefe Freude und haltlose Euphorie neben Überforderung und Einschränkung des Mutterseins. Sehnsüchte, die an der Wirklichkeit abprallen. Sehnsüchte, die auf einer ganz tiefen Ebene erfüllt werden.
Immer wieder aufbrechen, Schritte gehen, scheitern, weitergehen, ankommen.
Mein 40. Geburtstag hinterlässt keinen sichtbaren Einschnitt in meiner Vita. Als Anlass eignet er sich für einen bewussten Schnitt und Schritt, ein Resümieren und Vorwärtsschauen.
Und wegen all dem & noch mehr mein Wunsch nach einer ausgiebigen Reinigung. Körperlich. Geistig. Seelisch. Zum 40er wurde mir dieser Wunsch mit einer
ayurvedischen Pancha Karma Kur erfüllt. Wow. Cut.
ist das immer so, wenn Herzenswünsche auf einmal wirklich werden könnten...?
Dass jede Auseinandersetzung damit von einem galoppierenden Herzen und aufdringlichen Fluchtgedanken begleitet wird? Die Hände schwitzen und sofort zwei Rippen Nussschokolade bearbeitet werden müssen? Bevor mir die Möglichkeit eröffnet wurde, mein Geburtstagsgeschenk "ayurvedisches Panchakarma" in seinem Ursprungsland Indien einzulösen, war meine Welt voller Wünsche und Sehnsüchte, dafür bodenständig, übersichtlich und relativ risikofrei.
Wikipedia sagt: Mut ist Beherztheit und Wagemut und kommt von "sich mühen, starken Willens sein, heftig nach etwas streben"
Okay. Streben nach Freiheit. Reiselust. Mir selbst wieder nahekommen. Innerlich wachsen. Die Welt sehen ... das waren schöne, inspirierende, sehnsuchtsvolle Wünsche. So im stillen Kämmerlein. Ein Traum von einer fernen Zukunft. Sonntag Abends Tatort zu schauen, dabei Wäsche zusammenzulegen und mich nachher zu meinen Liebsten kuscheln statt in Indien salziges Ghee zu trinken, mich mit den Giften in meinem Körper zu konfrontieren und dabei meine Gedankenwellen zu beruhigen erscheint mir jetzt auch wie eine schöne Vorstellung von der nahen wie von der fernen Zukunft. Bleibe ich hier und alles läuft weiter wie bisher, sind meine Kinder in den besten Händen - meinen -, ich kann alles kontrollieren, wenn nötig richtungsweisend eingreifen, weiter von einem schönen Parallelleben träumen und hin und wieder richtig böse werden, weil mir das, wonach ich so heftig strebe, einfach nicht ermöglicht wird, bevor ich in Pension gehe, wenn überhaupt.
Ein Leben frei nach Karl Valentins: "Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut". Schuld daran sind
natürlich die anderen. Das steht schon auf meinem Kühlschrankmagnet. "Man muss die Schuld auch mal bei anderen suchen". Auch ein Geburtstagsgeschenk übrigens.
Ich werds tun. Ich werd mich dürfen trauen. Und die Spannung zwischen Wünschen, Wollen und Angst vor der Ungewissheit aushalten. Wahrscheinlich ist der Mut auch ein
Feigling und traut sich nur mit der Angst an der einen Hand und einer starken Sehnsucht nach Neuem und nach Veränderung an der anderen wo hinzugehen. Und wahrscheinlich geht er nur dann auf sein
Ziel los, wenn er eine pulsierende Freude rund um dieses Dreiergespann spürt.
Na dann sind ja alle beieinander, dies braucht, um meinem Herzen zu folgen. Auf nach Indien.
Nachdem mich noch zwei Kindergeburtstage in Bann gehalten haben - so ein Kindergeburtstag kann ja zwei bis drei Tage in Anspruch nehmen, das Ganze mal zwei ... steht nun, zweil Wochen vor Beginn des Panchakarma, der Entschluss, den Reinigungsprozess zu starten.
Um den Körper schon im Vorfeld auf die Reinigung vorzubereiten lasse ich weg:
* Kaffee
* Zucker
* schwarzen Tee
* Fleisch
* Alkohol
* Vollkornprodukte
Zusätzlich nehme ich jeden Abend drei Kapseln Triphala - eine ayurvedische Darmkur, die aus drei verdauungsanregenden Früchten besteht. Wahrscheinlich werde ich diese Ausleitung mit sanften Darmspülungen begleiten. Täglich einmal Basenpulver, eine Eisen+Vitamin C Tablette, eine all-in-one-Tablette mit Spurenelementen, Vitaminen und Mineralstoffen. Morgens tirinke ich das "ayurvedische Standardgetränk" - für 10 MInuten gekochtes Wasser, manchmal mit Zimt, Ingwer und Kardamom versetzt, das die Fähigkeit hat, die über Nacht entstandenen Ablagerungen aus dem Körper zu waschen. Den Rest fülle ich in die Thermosflasche und trinke über den Tag verteilt an die zwei Liter. zusätzlich noch Kräutertee, weil er den Stoffwechsel belebt und Mineralien zuführt. Und KEINEN KAFFEE, hatte ich das bereits erwähnt?!
Los geht's.
Woche I
Am schwierigsten ist der Kaffeeentzug. Nachmittags pünktlich um drei, wenn die Küche nach dem mittäglichen Wahnsinn wieder ihren Urzustand erreicht und die Kinder bei den Hausaufgaben sitzen, bricht die Müdigkeit wie ein Vorschlaghammer mit ungnädiger Gewalt über mich herein. Mein treuer Gefährte, der Kaffee, muss in seiner Dose bleiben. Mir bleibt kein anderer Ausweg als mich ergeben hinzulegen und mitten im nachmittäglichen Getöse binnen Sekunden einzuschlafen.
Genaugenommen ist auch die Sache mit dem Zucker eben kein Zuckerschlecken. Es verlangt mir sehr viel Kraft ab, die nötige innere Distanz zu meiner Lieblingsdroge aufzubauen. Und von meiner Umwelt sehr viel Geduld mit den wechselnden Launen, die dieser cold turkey vom Zuckerentzug auslöst.
Woche II
Das Triphala beginnt erst nach etwa einer Woche seine Wirkung zu zeigen. Solange hat es wohl gedauert, Agni, das Verdauungsfeuer anzuheizen. Im Nachhinein war es eine überraschend kurzer Zeit, bis ich mich von den Leckereien, die sonst ein verlockendes Belohnungssystem in meinem Alltag sind, entwöhnt habe. Liegt jetzt irgendwo eine Süßigkeit, ruft sie nicht nach mir. Wir ignorieren uns gegenseitig.
Als besondere Bereicherung erlebe ich das regelmäßige Trinken von abgekochtem Wasser. 2 Liter koche ich mir morgens ab und leere nach dem ausgiebigen Morgentrunk den Rest in die Thermoskanne. Die Toilettenbesuche haben sich dadurch zwar dupliziert, aber auch ein angenehmes Gefühl, in diesem Körper zu wohnen.
Woche III
Auf gehts und los. Die Welt ist groß. Die Diät während der dreitägigen Anreise durchzuhalten gestaltet sich überraschend unkomplizert. Im Flugzeug werden vegetarische und teilweise indisch gewürzte Menüs angeboten. Mit Genuss satt zu werden ist mehr als ich gehofft hatte
Ich liege in meinem Bett. Bin am Ziel. Der Ventilator rast über die Zimmerdecke und wirbelt die tropisch heiße Luft im Kreis.
Mein Körper zittert vor Anspannung. Direkt aus dem Flugzeug bin ich in das auf mich wartende Taxi gestiegen und an Noufals Seite acht Stunden durch dauerbesiedeltes, indisches Land gebraust. Eine Bundesstraße, die von den Einheimischen zur vierspurigen Autobahn erklärt wurde. Ich bin froh, dass Noufal weiß, wann er hupen muss (oft), und dass man in letzter Sekunde doch noch seine eigene Seite aufsuchen sollte, um einen Zusammenprall zu verhindern.
Draußen ist es dunkel. Man hört hie und da ein Murmeln. Hunde heulen. In der Ferne Autolärm. Bin ich hier an einem guten Ort? Bin ich hier gut aufgehoben? Sind die Menschen freundlich und mir zugewandt. Altbekannte Verlassenheitsgefühle klettern hoch.
¨Du bist seit drei Tagen unterwegs und endlich angekommen. Du bist erschöpft, du solltest schlafen¨, versuch ich mich zu beruhigen.
Rund um mich ein oranges Moskitonetz. Es erinnert mich körperlich und seelisch an meinen letzten Aufenthalt im fernen Ausland. Nepal. Im Basislager vom Kangchendzönga, dem dritthöchsten Berg der Welt, wo ich eine bekannte Bergsteigerin journalistisch begleitete. Damals hatte ich wie hier das Moskitonetz nur dieses kleine, schützende Zelt um mich. Für fünf Wochen mein Cocoon und Schutz gegenüber der unfreundlichen Welt voller herabbrechender Seracs und Lawinen, Eiseskälte, Egoismus und Streitlust. Fünf Wochen konnte ich dieses Verlassenheitsgefühl in mir kultivieren und zähmen. Dass ein winzig kleines Wesen die ganze Zeit in meinem Bauch mit dabei war, ahnte ich nur vage.
Und nun ist es wieder da. Dieses Gefühl des Auf mich geworfen seins weit weg von den Menschen und Orten, die mir Halt geben. Ob es diesmal berechtigt ist? Ich habe Hoffnung auf ein freundlicheres Umfeld, aber die Erinnerung ist übermächtig.
O Gott, was, wenn meine Erwartungen an diese Reise nicht erfüllt werden? Wenn der ganze Aufwand, den ich, meine Familie, meine Freunde und Freundinnen für diese Auszeit betrieben haben, sich nicht gelohnt haben und ich enttäuscht und emotional erschöpft statt aufgeladen und voller Energie wieder nach Hause komme?
Der Schlaf lässt lange auf sich warten. Als er dann kommt, mündet er in das Bild eines wunderschönen Sonnenaufgangs hinter den Palmen auf der gegenüberliegenden Seite des sehr breiten Flusses. Silhouetten von Fischerbooten vor der rotgoldenen Kugel. Der mysthische Nebel Indiens hängt in der Luft. Vogelgeschrei, irgendwo ruft ein Muezzin zum Gebet, Menschenstimmen, Schritte außerhalb meines Zimmers. Sie klingen freundlich. Ich grüße den indischen Morgen mit sehr andächtigen Morgengrüßen ;). Surya Namaskar.
Anza bringt mir eine Tasse Chai aufs Zimmer. Ich trinke ihn auf meiner schnuckeligen Miniterrasse mit riverview. Der erste Schluck katapultiert mich wieder zurück ins Basislager. Jeden Morgen brachte mir Danze eine Tasse Chai ins Zelt ¨good morning, Didi!¨
Ich weine. Weil ich überwältigt bin. Weil ich jetzt weiß, diesmal wird es eine gute Erfahrung. Ich werde diese unangenehme Erfahrung hinter mir lassen und eine neue machen. Ich lade meine alte Bekannte - die Verlassenheit - ein und nehme sie unter meine Fittiche. Ich bin da. Indien.
Wenig später bringt eine der Schwestern einen Plastiksack voller Mixturen in mein Zimmer. Alles dunkelbraun in verschiedenen Konsistenzen und mit malayalamesischen Schriftzeichen etikettiert. Ich rieche vorsichtshalber an einem Fläschchen, das ein Dekokt enthält. Kein Kaffee. Schade.
Farniente
Stunden vergehen, in denen ich auf das Los meines Schicksals warte. Werden sie mich erbrechen lassen? Oder drei Tage lang Ghee trinken, wie die slowenischen Damen, die ganz gelb um die Nase waren? Ich häkle zwei Reihen, schreibe ausgiebig Tagebuch, lies hier ein bisserl und dort ein wenig. Da empfohlen wird, sich geistig nicht zu sehr anzustrengen meditiere ich zwischendurch, mach Entspannungsübungen. Oder ich schaue staunend hinaus ins indische Land und lass mich davontragen von den Geräuschen, Gerüchen und Eindrücken. Gut. Alles, was ich mir zum süßen Zeitvertreib vorgenommen habe, habe ich in wenigen Stunden ausprobiert. Funktioniert alles. Wie gehts weiter?
Das Los
Am späten Nachmittag werde ich abgeholt. Kein Erbrechen. Kein Ghee. Treatment straight away. (Ich gebe zu, ich bin ein bisschen enttäuscht, die Sache mit dem Ghee hätt mich gereizt. Außerdem sitzt in mir dieser Glaubenssatz fest, dass nur was bringt, wofür man sich kasteien muss. Geschenkt kriegt man nix in diesem Leben ... es muss ja nicht immer weh tun oder gelbe Nasen machen, damit es Wirkung zeigt, hat eine weise Frau zu diesem Thema gesagt und darauf hab ich mich vorläufig eingelassen...)
Reisschlacht im Treatment room
Snehavasthi - to start with. Eine Darmspülung mit heilkräftigem Ghee. Nachher werde ich lange von zwei Therapeutinnen simultan am gesamten Körper mit warmem Kokosöl und anschließend einem heißen, in Milch getränkten Sack voll gekochtem Reis ein- und abgerieben. Zu guter Letzt öffnen sie die Säcke und verteilen den Inhalt über meinen Körper. Jede Ergotherapeutin hätte ihre Freude an dieser Gatschschlacht. Man könnte mich im Running Sushi als Maki verkaufen. Das Ganze wird mit einem langen grünen Blatt wieder von der Haut gezogen.
Nach der warmen Dusche darf ich nochmal auf den blankpolierten Massagetisch. Mit Watte auf den Augen nehme ich knistern und rascheln wahr. Den Geruch von Kampfer und Öl. Lange Zeit sind die Therapeutinnen mitVorbereitungsarbeiten beschäftigt. Flüstern miteinander.
Highway to heaven
Dieser sanfte Ölstrahl auf meiner Stirn trifft mich völlig unvorbereitet und löst eine magische Reaktion aus. Binnen Sekunden weicht die Anspannung aus meinem Körper, fließt mit dem Öl dahin. Im Zeitraffer sinken die Augen in die Augenhöhlen, genauso schnell bin ich schwer wie Blei. Dieser unaufhörliche Ölstrahl auf der Stirn fließt sanft kitzelnd über den Kopf, bahnt sich einen lustvollen Weg durch die Haare. Kontinuierlich von links nach rechts nach links nach rechts... Eine Ewigkeit lang. Denken wird beinahe unmöglich. Nur noch spüren und wahrnehmen. Es fühlt sich an wie der Zustand von Yoga Nidra. Und hält auch nachher noch lange an.
Okay?
Benommen nehme ich wahr, wie Öl aus meinen Haare gerubbelt wird. Ich stelle mir vor, wie das mit dem Haarewaschen anschließend mit Kübel und Becher wohl funktioniert. Egal. Ich bin im Paradies.
Als ich hinausgehen will, holt mich die Therapeutin zurück, ¨Nathalie¨, sie sieht mich mit großer Ernsthaftigkeit an, ¨7 days no wash!¨
Die Behandlung der letzten vier Tage lief immer nach dem selben Schema ab wie an Tag 1. Dazugekommen ist seit Montag früh Soudheep.
Groß. Drahtig. Schwarzes Haar zum Seitenscheitel gekämmt. Eleganter Moustache. Rollt morgens leise mit seinem Motorrad hier vorm Tor des Hospitals an, nachdem er bereits woanders die sattvische Morgenzeit beim Yogaunterricht verbracht hat. Kommt energiegeladen auf die Dachterrasse und legt los. Wir sind sechs Damen verschiedenen Alters und Nationalitäten, die sich unter seinen Anweisungen und kreisenden Adlern auf Frühstückssuche synchron mit breath und mind bewegen.
Die Art seines Yoga ist streckenweise anders als das mir bekannte. Jeden Tag steigert er die Herausforderung. Nimmt anspruchsvollere Übungen dazu. Dehnt den Zeitraum aus, den wir auf dem von Wellblech geschützten Dach verbringen. Es ist ein faszinierendes Gefühl, Yoga hier in seiner Geburtsstätte zu praktizieren.
Endlich in der Erkenntnis angekommen, dass ich kein Ghee trinken werde und genügend Restenergie habe, entscheide ich mich, bei Soudheep einen Yoga Therapy Course zu besuchen. Allabendlich sitzen wir uns im ¨Klassenzimmer¨ auf Schilfmatten gegenüber und Soudheep führt mich mit seinem tiefen Wissen und seiner berauschenden Euphorie für sein Fach in die Philosophie und therapeutischen Zusammenhänge des Yoga ein.
Sein Wissen gründet auf intensivem Studium der yogischen Schriften, jahrelanger Praxis und einem offenen Geist, der auch die Herausforderungen und Kontexte der modernen, westlichen Welt kennt und in die Interpretation der alten Schriften einfließen lässt. Ich lass mich von seinem Wissen, seinen ausladenden Gesten und der Freude, die dem zugrundeliegt, davontragen und für ein paar Stunden schweben wir auf diesem fliegenden Zauberteppich dahin.
Und mitten im Geschehen trifft mich die Erkenntnis wie ein Sternspritzer, dass alles da ist, was ich mir wünschte. Ohne Kasteiung. Ohne Übelkeit. Zart und vielversprechend. Ja, ist das denn die Möglichkeit!! ;)
Wenn Gott zum Essen nach Frankreich fährt, dann kommt er zum Autofahren nach Kerala. Kein Wunder - hier gibts Straßen, auf denen friedfertige, ruhige Menschen wie selbstverständlich alle Verkehrsregeln brechen, die ein menschlicher Geist jemals erfunden hat. Gottes persönlicher Autodrom - Rummelplatz. Der große Spaß dabei ist, dass es sich trotzdem wie von Zauberhand (sic!) immer ausgeht. Man muss nur rechtzeitig hupen.
Oder es liegt am Pickerl, das auf den meisten Autos klebt:¨God's own country¨
Morgenyoga. Aufwärmübungen, mobilisieren, atmen, dehnen, kräftigen. Volle Lebensfreude in jedem Atemzug entdecken. In der kurzen Entspannungsphase zwischen zwei Übungen überrollen mich längst vergessene Bilder aus meiner Kindheit.
Das Dachgeschoss bei Oma. Der magische Ort von brotherhood and sisterhood. Eine Schatzinsel für meine Schwester, meine Cousinen und mich. Kleine Parfumfläschchen mit orientalischen Düften- Patchouli, Sandelholz, Jasmin. Der Geruch der fernen Welt. Vergilbte Postkarten. Räucherstäbchen. Feinst gearbeitete, hözerne Schmuckkästchen mit liebevoll geschnitzten Einlegearbeiten, die genügend Schmuck für eine Königsfamilie beinhalten. Halbedelsteine, Silber, Sandelholz, Rosenholz, kunstvolle Miniaturschnitzereien in Form von Elefanten oder indischen Göttern. Wie oft haben wir uns mit all diesen Schätzen geschmückt, sie von hierhin nach dorthin verlagert. Haben diese Düfte unser Spiel begleitet.
Mit allen Sinnen
Ich bemühe mich wieder, einzutauchen in die Union zwischen Bewegung, Atmung und präsenter Lebensfreude. Mit sonorer, sicherer Stimme gibt der Yogalehrer Anweisungen. Die beiden Onkels mit wallendem Haar und indischem Moustache. Das Lachen und der kecke Nasenring der Tante und die Freude über die beiden Cousinen. Immer mal ein bisschen zuhause und dann lange weg.
Bilder lösen sich gegenseitig ab. Selbstgeschneiderte Sitzsäcke aus indischen Stoffen, indische Hosen und Kleider, mit kleinen glänzenden Spiegelchen darin. Teppiche. Legendäre Fotos von unfassbaren Kleidungen, Haarlängen, Abschieds- und Ankunftsszenen. Und immer dieses Flair der großen weiten Welt. Geheimnisvoll. Faszinierend. Geschichten und Schilderungen, die in endlosen Stunden des Zusammenseins erzählt werden. Keine Details darüber, nur mehr Wortfetzen, Erinnerungsfetzen in einem sich etwas lichtenden Nebel.
¨Wherever you go. There you are.¨
Sudheeps Bauchmuskeltraining sucht seinesgleichen. Ohne volle Konzentration und genausolchen Einsatz kann man sofort zusammenpacken und fischen gehen. Aber mein Bauch gibt nach. Will weich sein. Die Verlassenheit unter meinen Fittichen ist gerührt. Weil sie gar nicht verlassen ist. Irgendwie, wie auch immer die Mächte hier gewirkt haben, hat es mich dorthin verschlagen, wo viele dieser Geschichten und Schilderungen damals entstanden sind. Netradevi, der sagenumwobene, selbstgebaute Segelkatamaran, auf dem Onkels und Tanten mit ihren Familien und auch wir oft unsere Ferien verbrachten - meist im Hafen liegend - ist hier entstanden, nur einen Steinwurf entfernt. Nach Fertigstellung wurde der lange Seeweg nach Italien angetreten. Oma, die mit leuchtenden Augen von dem Fischerdorf Ullal erzählt. Vom köstlichen Chai, den Fischernetzen und den indischen Frauen.
Stück für Stück
Ich habe alle Distanzen zu diesen durch die vielen Geschichten und Erinnerungen eines Kindes bedeutend gewordenen Orte gegoogelt, aber es bleibt nicht genügend Zeit, sie aufzusuchen. Mein Fokus für diese Reise ist ein anderer.
Aber da ist ein unerwartetes Saatgut gelegt, das ganz still zu keimen begonnen hat. Und jetzt und hier haben sich wieder Puzzleteile meines Lebens zu einem größeren Verständnis zusammengefügt.
¨And now enjoy that beautiful feeling¨, sagt Soudheep, um die abschließende Meditation einzuleiten. Ja, genau das mach ich jetzt.
Elakizhi - Ela bedeutet ¨Blätter", kizhi heißt soviel wie ¨große Pille¨. Seit drei Tagen ist diese Behandlung Teil meines Panchakarma-Programms, dafür sind andere Treatments weggekommen. Beispielsweise Shirodhana, der Stirnölguss. Schade eigentlich. Das nun wieder gewaschene Haar trägt allerdings ohne Frage auch zum allgemeinen Wohlbefinden bei.
Blätter von Tamarinde, Rhizinus und dem Meerrettichbaum, Chinesischer Mönchspfeffer, Indisches Lungenkraut und andere Blätter werden gehackt und mit geschabten Kokosnüssen, Zitrone, Kurkuma und Salz vermischt. Die Mixtur wird in heißem Öl gebraten und auf zwei fest verknotete Leinensäcke verteilt.
Doshas
Die Blätter haben einen Vata-beruhigenden Effekt. Vata ist eine Konstitution aus der Tridosha-Theorie des Ayurveda. Doshas bezeichnen die drei verschiedenen, im Körper wirksamen Lebensenergien. Sie verleihen dem Menschen seine individuelle Konstitution und regulieren seine körperliche und geistige Funktion.
Vata und Kapha sind mein Hauptdoshas. Weil Doshas im allgemeinen gerne dazu tendieren, übermäßig zu werden und aus den Fugen zu geraten oder an energetischem Mangel leiden müssen sie ständig mit Hilfe verschiedener Faktoren ausbalanciert werden. Das unterliegende Dosha, in meinem Fall Pitta, soll wiederum gestärkt werden.
Jede ayurvedische Behandlung zielt darauf ab, ein Gleichgewicht zwischen den Doshas herzustellen, das den Grundtypus miteinbezieht. Diese kluge Theorie erklärt nun auch, warum mir kein Ghee angeboten wurde. Dafür benötigt man eine solide Pitta-Konstitution. Mein Typ erfordert schlichtweg eine andere Herangehensweise an die körperliche Entgiftung.
Bernie's Burger
Die Behandlung findet nackt mit einem spannend-raffinierten Einweg-Schamschutz statt. Vierhändig wird der Körper mit verschwenderisch viel Öl massiert. Das Gas für den kleinen Gasofen auf dem Stockerl neben dem Behandlungstisch wird zugeschaltet. Das Öl erhitzt. Ultrahoch. Es muss sich richtig viel Rauch im Raum bilden ;) (die Frage ist nicht ganz geklärt, inwieweit sich dieser Faktor positiv auf den Therapieeffekt auswirkt)
Werden dann die Blattsäckchen in das Öl gegeben zischt und brutzelt es wie in einer Pommesbude und ich gebe zu, beim ersten Mal vor Schock beinahe fluchtartig vom Behandlungstisch gesprungen zu sein, als sich die Therapeutinnen mit den frisch frittierten Säckchen einsatzbereit auf mich zubewegt haben.
Mit ein paar lockeren Klopfern auf den Tisch und in die eigenen Handballen ist die erste Hitze allerdings weg.
Der Körper wird systematisch abgeklopft und eingerieben. In fünf verschiedenen Positionen. Gut, dass es hier keine Spanferkel gibt. Wer weiß wie sich diese Methode sonst entwickelt hätte.
Oliven auf trockenen Stöcken
Basierend auf dem Spruch -"Wenn du einen trockenen Stock beugen willst, musst du ihn zuerst lange in Wasser oder Öl einlegen", ist nun auch das Waschverbot nach Ölbehandlungen verständlich. Man stelle sich nur den Geschmack einer Olive frisch vom Baum im Vergleich zu einer in Öl eingelegten, griechischen Kalamata vor.
"Gebeugt" wird mein "Stock" dann am Donnerstag, wenn alle Gifte, die im Körper nun an einer Stelle gesammelt wurden, hinausmanövriert werden.
Zu guter Letzt verteilen Nido und Jessna noch ein Schüsselchen Öl großzügig auf meinem Körper. Tupfen ihn wieder ab. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass waschen bis zum Ende des Behandlungszyklus ein absolutes Tabu ist.
Das dreistöckige Haus inklusive Dachterrasse ist wie ein Bienenstock. In jeder Wabe wohnen ein bis fünf Personen. PatientInnen leben auf großzügigerem Raum, das Personal dicht gedrängt. Wer hier arbeitet fährt bloß einmal die Woche nach Hause. Wenn überhaupt.
Im großen Mittelgang aller Etagen ist eine große, teichförmige Öffnung nach unten, die direkt in einen Fischteich im Erdgeschoss mündet. So können Menschen durch lautes Rufen einfach und schnell gefunden und brisante Themen über die Stockwerke hinweg unkompliziert besprochen werden.
Der sensationelle Ausblick von den öffentlichen Terrassen in den einzelnen Stockwerken auf Backwaters und aktive Vogelwelt lädt PatientInnen wie Personal immer wieder zu geselligen Plaudereien ein. Freundlicher und offener Austausch ist immer irgendwo möglich. Im eigenen Zimmer ist Raum für Stille. Entfaltung, Entspannung, Muse.
Menschen
Die internationalen Ayurveda-StudentInnen sind tagsüber mit ihren Kursen beschäftigt und freuen sich über Ablenkung in den Pausen. Übers Wochenende wird der Lust am Erleben, Sightseeing, Bummeln, Streunen und Feiern nachgegeben.
Das Treatment-Klientel trifft sich on and off treatments, mit gelben Nasen, öligen Körpern, müde, nach einem Schäferschläfchen. Mit gegenseitiger Aufmunterung zum Durchhalten, Erfolgserlebnissen, ayurvedischen Schauergeschichten und Tipps für noch mehr Schönheit. (wenn das überhaupt möglich ist).
Und alle gemeinsam verbringen die Zeit zwischen acht und zehn Uhr vormittags beim gemeinsamen Atmen und YogaPraktizieren auf der immer heißer werdenden Dachterrasse.
Bücherwurm
Die ¨Bibliothek¨ - ein alter Kasten voller ebenso alter bis neuwertiger, jedoch durch und durch gut gelesener Bücher - beinhaltet ein kurioses Sammelsurium an Fachliteratur und Romanen. Neben Indienreiseführern und yoga- wie ayurvedaspezifischen Büchern findet man dort einen vielsagenden und beinahe chronologischen Fundus an bekannten Lebensratgebern, esoterischen Bestsellern und Sachbüchern zu regionsspezifischen Themen. Botschaften, die Reisende auf diese Weise mit anderen Reisenden teilen wollten. Was in Anbetracht der vielen vergilbten Seiten dankend angenommen wird.
Ayurvedische Mahlzeiten
Essen wird dreimal täglich aufs Zimmer geliefert. Man isst entweder dort in Achtsamkeit oder sucht sich Gesellschaft irgendwo im Bienenstock. Es gibt Gekochtes (abgesehen von ein wenig frischem Obst) und ein Menü pro Mahlzeit. Meistens besteht es aus einem Bohnen- oder Linsen- oder Kichererbsengemüseeintopf mit Beilagen, oft gewürzter Reis oder Reisfladen in verschiedenen Formationen.
Die Gewürze und Zutaten werden so ausgewählt, dass sie alle drei Doshas in Balance bringen oder halten, können also von allen PatientInnen, die gerade essen dürfen, gegessen werden.
Die verwendeten Gewürze sind alle hier heimisch, kein Wunder, Kerala ist nicht nur ¨God`s own country¨, die indische Provinz des Lächelns, der Meinungsfreiheit, Wohlstand und Toleranz, die Wiege von Ayurveda und Yoga und somit die Provinz der Heilkunst und Philosophie. Kerala ist auch der grüne Gewürzgarten Indiens. Kurkuma, Ingwer, eine Art Lorbeerblatt, Kardamom, Pfeffer, Chilli, Zimt, Curryblätter, Sternanis oder Senfkörner, manchmal auch indische Gewürzmischungen wie Garam Masala sind in dem Tridosha Essen haufenweise auffindbar. Darin vermischt immer große Mengen von geriebenem, geraspeltem oder flüssigem Kokosnussfleisch
Aktivitäten
In gemeinsamen oder einsamen freien Zeiten lädt das Umfeld zu verschiedenen ¨Themenwanderungen¨ ein. Wer sich für das Themengebiet ¨laut¨ oder ¨Lärm¨ entscheidet, geht runter zur Straße, wo bereits viele Gespräche zu führen sind und Gruppenbilder mit Stranger auf den Handys der Nachbarn gemacht werden. Der Straße entlang kann man den Verkehr beobachten, was durchaus als eine der Hauptattraktionen zu bewerten ist, solange man vor lauter Faszination nicht vergisst, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Wer's ruhiger haben will sucht den Weg durch das Dorf, direkt durch die backwaters. Faszinierende Vogelwelt, üppiggrüne, ausladende Bäume, Palmen, Bananen noch und nöcher. Hennen, Ziegen, Kühe, räudige Katzen und ebensolche Hunde. Ganze Schulklassen kommen in ihren Uniformen auf den Schulhof gerannt, um den Foreigners laut rufend zu winken. Frauen ziehen Wasser aus den Brunnen, waschen Wäsche. Überall freundliche, offene Gesichter und überall werden herzliche Lächeln ausgetauscht.
Eine sehr beliebte ¨Themenwanderung¨, weil gruppenidentitätsstiftend, ist die Suche nach dem geheimnisvollen Tempel, der laut google earth irgendwo auf der gegenüberliegenen Seite des Flusses zu finden sein sollte. Von dem allmorgendlich und -abendlich laute Musik zu hören ist, den aber kein foreigner jemals zu Gesicht bekommen hat ....
Rauchnacht
Abends, wenn die Moskitos scharenweise einfallen, wird Glut in eine an einem langen Stab hängende Schüssel gegeben und mit kleinen Antimückenkügelchen versetzt. Hinter jedem Vorhang, unter jedem Bett wird ordentlich ausgeräuchert und der angenehme Geruch läutet die ruhige, lauschige Zeit des Tages ein.
Für die Tiere ist es die Zeit des Tages, in der sie nochmal so richtig in ihr Element gehen um ohrenbetäubendes Surren, Zwitschern, Kreischen, Krähen, Zirpen, Heulen in die Abendluft zu posaunen.
Mein Körper ist frisch abgerieben und eingeölt, das Essen wurde soeben aufs Zimmer gebracht, es ist unfassbar heiß, sogar die Tiere unterliegen der Macht der Sonne. Mittag im Basecamp
An meiner Wand hängt ein Plakat aus dem Tau-Magazin, auf dem ein Barfuß gerade dabei ist, auf eine Eisschicht zu steigen. Daneben steht "may your choices reflect your hopes, not your fears".
Nachwirkungen ...
Wieder daheim spüre ich nach. Ganz sicher war die eine oder andere Entscheidung von Ängsten motiviert. Meinen Hoffnungen habe ich in der Planung - begleitet von Ungewissheit mit Mut - umso mehr Raum gegeben. In der Hoffnung, das Eis möge tragen. Und es hat getragen. Auf jedem einzelnen so perfekt auf meine Sehnsüchte und Hoffnungen abgestimmten Schritt dieser Reise.
Es haben sich wieder neue Räume geöffnet. Die Welt ist kleiner geworden. Und größer. Der Raum, der für mich zugänglichen Möglichkeiten, die dieses Leben zu bieten hat, hat sich erweitert. In mir ist mehr Weite und mehr Ruhe entstanden. Und ein neues, weiches Vertrauen in das Wohlwollen des Lebens.
Das Beugen des Stocks
An meinem letzten Panchakarma-Tag durfte ich nach dem Morgenyoga einen magischen Trunk zu mir nehmen, begleitet von etwa zwei Litern heißem Wasser, der mich binnen der kommenden zwei Stunden häufig die Toilette aufsuchen ließ. Damit wurde das in den vorangegangenen Tagen im Darm gesammelte Gift aus meinem Körper geschwemmt. Den Rest des Tages bekam ich nur zweimal eine salzige Reissuppe. Und die übliche Tagesdosis an Medizin, die ja per se fast eine volle Mahlzeit einnimmt. Ende des PanchaKarma und Beginn der Heimreise.
Wieder zuhause, hat es ein paar Tage gedauert, um alle Anteile von mir nachkommen und ankommen zu lassen und das Ende der Jetlag-Verwirrungen abzuwarten. Die Effekte der Kur sind vielseitig und nicht nur körperlich. Wenn auch mein Körperhaus sehr einladend und gemütlich ist derzeit ;) und es sich gut darin wohnen lässt. .
Funken
Ich habe Indien nur an der Oberfläche gekratzt. Das hat gereicht, um eine tiefe Faszination in mir auszulösen und den Wunsch, wiederzukommen. Tiefer einzutauchen.
Am allermeisten hat diese Reise meinen Wissensdurst und Sehnsucht nach Nähe zu yogischen und ayurvedischen Themen aufgefüllt und neu zum Klingen gebracht. Und bewirkt, hinter und unter die Theorie zu gehen. In den Bereich, wo Worte lebendig und spürbar werden. Wo sich eine neue Dimension des Begreifens entfaltet.
In großer Dankbarkeit und Freude
Nathalie
Yoga ist ein immer wieder-Wieder-Zurückkommen - zu dir, deinem Weg, deinem Wesen, deiner Wahrheit. Yoga ist ein Dich-Finden. Ein Dein- Inneres-Wesen-Entfalten. Ein Dich-Dann-Ausdehnen-In-Die-Möglichkeiten-Deines-Lebens.
Yoga ist wie Heimkommen und deine Heimat mitnehmen wohin auch immer du gehst.
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